Eine kulturelle Gratwanderung zwischen Anerkennung und Almosen
In sonnigen Abschiedsgedanken
Die Gruppe im Reisebus ist sich einig: Das war eine tolle Erlebnisreise durch
die herrlichen Landschaften der Westtürkei!
Zwischen monumentalen steinernen Zeitzeugen sind wir staunend eingetaucht
in die frühe griechisch-römische Vergangenheit. Die Menschen und das Land
mit seiner launigen Frühlingssonne haben unsere Herzen erobert. Nostalgisch
gestimmt, genießen wir den letzten Ausflugstag im Reisebus umso intensiver.
Wir verarbeiten die Eindrücke der letzten Tage jeweils auf persönliche Weise.
Über Rückenlehnen gebeugt, plaudern manche mit dem Vordermann. Andere
blicken den vorbeiziehenden Straßenbildern nach, in Gedanken schon zu Haus.
Gute Betreuung verdient angemessene Anerkennung
Reiseleiter und Busfahrer dürfen für die großartige Betreuung ein finanzielles
Pflicht-Dankeschön erwarten. Also wird in einer Umfrage leise vorgeschlagen,
das Geld in einem Umschlag zu sammeln. Mit ein paar Dankesworten zur fast
freundschaftlichen Fürsorge, überreichen wir dem Reiseführer beim Abschied
den Gesamtbetrag.
Jeder soll, so wie er kann oder will, seinen Anteil dazugeben. Sogleich werden
Geldscheine sortiert und abgezählt. Was verbleibt uns von der eingetauschten
Landeswährung, was muss mit Euros ausgeglichen werden?
Wenn muntere Stimmung in die Sprachlosigkeit stürzt
Unser Reiseleiter hat die kollektive Absicht registriert. Es kommt zum Eklat:
Mit ernster Stimme stellt er über Busmikrofon klar, so kein Geld anzunehmen,
falls wir umsetzen, was er vermutet. Im Bus folgt auf den Schreck betretenes
Schweigen. Unsicherheit macht sich breit. Eben noch unsere Welt in Ordnung,
was ist nun falsch daran? Der Umschlag geht durch die Reihen im Bus zurück
und jeder entnimmt seinen eingebrachten Beitrag. Scheinbar aber nicht jeder.
Wir sind das Schlusslicht. Unser Geldbetrag ist zwischenzeitlich um die Hälfte
geschmolzen. Aber das ist eine andere Geschichte…
Gleiche Sprache schließt noch keine Freundschaft
Wir sind am Hotel angekommen und steigen aus. Jeder legt zum Abschied
dem Reiseführer das angedachte Trinkgeld in die Hand. So schnell wie sich
seine Stimmung verdunkelt hatte, strahlt der Reiseleiter nun um die Wette.
Er hat viele Jahre in Deutschland als Student gelebt und die meisten in der
Gruppe sind erfahrene Reisende. Dennoch geraten hier zwei Anschauungen
offensichtlich in Konflikt miteinander. Was löste diese Missstimmung aus?
Klärung in der Situation hätte die Frage nach dem Grund für seine Reaktion
gebracht. Ein guter Einstieg in das Gespräch wäre unser geäußerter Wunsch
nach besserer Orientierung.
Wir hatten sein Handeln aber weder hinterfragt noch etwas daraus gelernt.
So blieb die Ungewissheit stehen und ich auf meinen Vermutungen sitzen.
Die Türöffner zwischen den Kulturen
In der Regel beschränken wir als Privatreisende die Berührungen mit fremden
Kulturen auf vergleichsweise wenig Alltagssituationen. Gedanken müssen wir
uns über das „Anderssein“ in den besuchten Reiseländern selten machen. Ohne
größere Reibungen bleiben wir unserem Verständnis von Kommunikation treu.
Im touristischen Umfeld stellt sich im Gegenzug die einheimische Bevölkerung
auf ihre Urlaubsgäste ein, selbst wenn deren Verhalten ihnen im Kern fremd ist.
Die übliche Reiseführer-Literatur behandelt Benimm- und Verhaltenshinweisen
im Urlaubsland sehr pauschal und kaum zielführend bei kritischen Situationen.
Mit Eigeninitiative, einer bewussten Wahrnehmung für eigene Unsicherheit und
unter gegenseitiger Gesichtswahrung lassen sich mögliche Konflikte auf Reisen
leichter entschärfen.
Alle Kulturen erleben Freundlichkeit und Humor als ihnen vertraute Zutaten für
eine gelungene Interaktion: Ein Lachen, frei von Spott und Arroganz, verbindet
Menschen auch bei spürbarem Anderssein. Ein angemessenes Trinkgeld ist auf
Reisen Zeichen von Anerkennung für die empfangene Leistung oder Betreuung.
Vor allem ist Trinkgeld als legitimer Teil der Einkommenssicherung nicht beliebig
verhandelbar.
Mein Tipp: Im Zweifelsfall ist Humor immer das bessere Gastgeschenk!